Corona-Krise lähmt psychosoziale Atemwege

Welle psychosozialer Not rollt auf Deutschland zu. Gesundheitspolitik muss sich heute schon darauf einstellen. Kritik an Spahn wächst.

Das Deutsche Psychotherapeuten Netzwerk (DPNW) weist darauf hin, dass aus psychotherapeutischer Sicht davon auszugehen ist, dass eine große Welle an psychisch in Not geratene und erkrankte Menschen auf das Versorgungssystem zurollen. Da werde aktuell in der Gesundheitspolitik zu wenig getan, so der DPNW.

Seit Monaten ist die Corona-Krise Topthema Nummer eins im TV, Printmedien und zwischenmenschlichen Gesprächen. Das bleibt nicht ohne Folgen. Robert Warzecha, Vorstandsmitglied des DPNW, sagt dazu: „Was uns anfangs unwirklich erschien, schockte die meisten Mitbürger mit zunehmender Dauer. Seitdem plagt es uns im Alltag. Man kann sich dem Krisenthema und all dessen geistigen und emotionalen Verwurzelungen kaum entziehen, es sei denn, man lebt zurückgezogen auf einer einsamen Südseeinsel oder hinter dem Mond.“

Die Corona-Krise als generelle generalisierte Angststörung?

Die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bemerken, dass die psychosozialen Schutzdämme zunehmend aufweichen. Dies mache die meisten Menschen müde, traurig oder wütend. Oder alles zugleich. Menschen verarbeiten explizit oder implizit Informationen zum Virus ohne diese komplett zu verstehen und deren Auswirkungen auf ihre Zukunft abschätzen zu können. Corona bliebt schwer greif- und begreifbar.

Robert Warzecha führt dazu aus: „Wir haben uns nur scheinbar an diese dauernde Ungewissheit gewöhnt. Doch die psychische Bewältigung ist noch gar nicht vollzogen. Begegnet uns bald in der Praxis, die Corona-Krise als generelle generalisierte Angststörung?“

Aus Sicht des DPNW steigern die Informationsfluten, politische Zickzackentscheidungen und die damit verbundene Hilflosigkeit, Kontrollverlust oder Perspektivlosigkeit den psychischen Leidensdruck. Erschwerend kommen soziale Blockade oder gar Vereinsamung hinzu, so der DPNW.

Robert Warzecha: „Gerade jetzt müssen wir emotional zusammenrücken und das mit körperlichem Abstand. Ein kaum zu leistender psychischer Spannungsspagat.“ Er attestiert weiter: „Typische psychische Schutzfaktoren wie ein sicherer Arbeitsplatz, geregelter Tagesablauf, Vereinssport, der Stammtisch im Kegelverein, ein gemütlicher Kinoabend mit Partner oder ein kleines, unmaskiertes, unerwartetes, spontanes Lächeln fallen weitgehend in den Corona-Strudel.“

Soziales Mit- und Füreinander auf Intensivstation

Robert Warzecha betont: „Das soziale Mit- und Füreinander liegt irgendwo auf Intensivstation und wartet auf ein passendes Beatmungsgerät. Unsere geliebten und vertrauten sozialen Freiheiten stehen hilflos und traurig vor der Tür.“ Das verschärfe die seelische Krise.

Die Viruskrise trifft vor allem Menschen psychisch hart, die ohnehin am Rande der Gesellschaft leben, so der DPNW: Alte, körperlich und psychisch kranke, behinderte und Mitmenschen mit niedrigem sozioökonomischem Status sind auf Hilfe angewiesen. Die gegenwärtige globale Krise wirkt sich als schwer zu bewältigender und aushaltbarer Stressor auf diese Bevölkerungsteile aus. Es ist zu erwarten, dass in Einzelfällen bestehende körperliche und psychische Krankheitsverläufe massiv verstärkt oder Rückfälle hervorgerufen werden.

Das deutsche Gesundheitssystem muss jetzt handeln und sich auf diese großen Herausforderungen einstellen, fordert der DPNW. Andernfalls werde Deutschland zum psychosozialen Notfall.

Die zweite DPNW-Vorsitzende Claudia Reimer fordert darüber hinaus: „Die halbherzigen Lockdown-Bestimmungen die den privaten Bereich, Altenheime, Krankenhäuser, Einzelhändler oder Kultureinrichtungen betreffen, bringen nichts. Vielmehr müssen wir jetzt Bereiche regeln, in denen dichtgedrängt gearbeitet, gelernt oder gefahren wird.“

Reimer plädiert für die Ausgabe von FFP2-Masken an alle, die sie benötigen. Weiterhin wären aus ihrer Sicht Kontrollen in der Produktion oder im öffentlichen Nahverkehr wesentlich sinnvoller, als die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus auf den Einzelnen zu schieben.

Final schließt sich Reimer der Kritik an Jens Spahn an: „Jens Spahn hat das Vertrauen von uns Ärzten und Psychotherapeuten bereits durch den gewissenlosen Umgang mit den Gesundheitsdaten im Zuge der Einführung der elektronischen Patientenakte verspielt. Das jetzt Gerüchte aufkommen, ihm soll die Zuständigkeit für die Impfungen entzogen werden, überrascht uns nicht. Möge er doch bitte in Frieden sein Amt räumen.“

Über den Verband

Das „Deutsche Psychotherapeuten Netzwerk – Kollegennetzwerk Psychotherapie“ (DPNW) wurde am 02.05.2019 in Bonn gegründet. Es hat 1.600 Mitglieder und 12.000 Abonnenten seines Freitags-Newsletters. Damit ist der DPNW drittgrößter Berufsverband im Bereich Psychotherapie. Der Vorstand besteht aus: 1. Vorsitzender: Dipl.-Psych. Dieter Adler, 2. Vorsitzende: Dipl.-Psych. Claudia Reimer, Kassenwart: Dipl.-Psych. Robert Warzecha. Mehr unter: www.dpnw.de