Der Bericht zum Antrag an den Gutachter oder die Gutachterin

Jeder Psychotherapeut und jede Psychotherapeutin, der oder die die Durchführung einer Langzeittherapie beantragen möchte, muss zu diesem Zwecke einen mehrseitigen Bericht anfertigen. Die Anforderung ist, dass dieser Bericht alle für das Verständnis dieses „Therapiefalls“ notwendigen Angaben enthält. Was aus der Fülle der vorhandenen Informationen tatsächlich relevant und demgemäß unerlässlich ist, hat der Therapeut bzw. die Therapeutin selbst zu entscheiden. Das Ganze sollte auf den Umfang von 2-3 Seiten verdichtet werden.



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So sind folgende Arbeitsschritte notwendig:

  1. Der Therapeut bzw. die Therapeutin sichtet die gesammelten Informationen (Aufzeichnungen aus den Sitzungen, Biographischer Fragebogen, evt. Testergebnisse) und selektiert nach Relevanz.

  1. Die Informationen werden den einzelnen Gliederungsabschnitten zugeordnet, ausformuliert und ergänzt.
  1. Der Informationsgehalt aller Abschnitte wird auf Vollständigkeit geprüft. Nicht ganz selten ergeben sich aus Sichtung und Zusammenstellung der Informationen, dass noch eine oder mehrere Informationslücken bestehen. Wenn dem so ist, werden diese entweder im nächsten Therapiegespräch vervollständigt oder, wenn Eile geboten ist, wird der Patient bzw. die Patientin angerufen, um eine Detailinformation zu erfragen. Alternativ wird es mit Mut zur Lücke weggelassen, in der vagen Hoffnung, der Gutachter möge nicht detailverliebt sein. 
  1. Um die Bedingungsanalyse (oder Psychodynamik) darzustellen, taucht die Autorin dieser Zeilen (ihres Zeichens verhaltenstherapeutische Psychotherapeutin) tief in die Erlebniswelt des Patienten bzw. der Patientin ein, um nachzuvollziehen, wie aufgrund der Erfahrungen – einerseits während des Heranwachsens, andererseits zum Zeitpunkt des Entstehens der psychischen Erkrankung sowie in der Zeit dazwischen – die Grundüberzeugungen und Verhaltensgewohnheiten (respektive Grundkonflikte) entstanden sind, wodurch sie aufrecht erhalten wurden und inwiefern das dann entstandene Störungsbild eine zumindest kurzfristige Lösung aus einem inneren Dilemma geboten haben könnte.
  1. Selbstverständlich ist eine Diagnose zu erstellen, und zwar eine gesicherte Diagnose. Hierzu werden insbesondere die Symptome und Symptomgruppen noch einmal einer eingehenden Analyse unterzogen sowie Testergebnisse berücksichtigt.

  2. Nachdem dann die „Soll-Seite“ gut abgebildet ist, gilt es, eine Strategie für die Behandlung zu entwerfen. Was braucht es, um die Defizite aufzulösen oder auszugleichen und mit welchen Mitteln soll und kann dies erreicht werden? Zur Einschätzung der (notwendigerweise mindestens hinreichend günstigen) Prognose wird nochmal recht intensiv auf der Haben-Seite geforscht: Worauf lässt sich das Erwünschte aufbauen – was ist schon gut etabliert? Bei der Wahl der Mittel ist dann wohl eine Kompromissbildung gefragt: Welche „Standardwege“ werden aufgrund des Störungsbildes und des Therapieverfahrens nahezu zwangsläufig verfolgt und was hat sich im Therapiealltag immer wieder als besonders hilfreich erwiesen und welche „Lieblingsinterventionen“ werden in dieser Therapeuten-Patienten-Konstellation für unverzichtbar gehalten? Der Therapeut oder die Therapeutin mit leicht zwanghaften Tendenzen wird hier ein allzu großes Auseinanderdriften von Therapie und Praxis wohl eher nicht zulassen. Zugleich sei aber doch bemerkt, dass wohl kaum ein Therapeut bzw. eine Therapeutin, der was auf sich hält, bereit wäre, ein striktes „Schema F“ abzuspulen – so wie es zumindest augenscheinlich ein Verhaltenstherapiemanual vorsieht. Zugleich wird ja auch von der zwischenzeitlich schreibenden Zunft der Therapeuten und Therapeutinnen gefordert, der Patient bzw. die Patientin möge in allen Punkten den Berichtes individuell erkennbar sein. Standardschemata oder gar Textbausteine sind da unerwünscht. 


Alles in allem nimmt die Berichterstellung nebst Formularschlacht gut und gerne 2,5 bis 3,5 Stunden in Anspruch. Hin und wieder gelingt auch mal die Rekordzeit von 2 Stunden. Für die Autorin bedeutet das Verfassen dieses Gesamtkunstwerks eine emotional-kognitive Arbeitsleistung mit zum Teil erheblichem Energieaufwand. Das weiß sie schon aus Erfahrung. Daher möchte sie sich am liebsten nur einmal pro Bericht an die jeweilige Akte setzen. Hierzu benötigt sie drei Stunden geblockte Arbeitszeit am Stück. Die ist nicht immer so ohne weiteres zu organisieren. Und deswegen kann ein solcher Bericht nur selten von einem Tag auf den anderen erstellt werden. Muss die Arbeitszeit am Bericht gestückelt werden, verlängert sie sich natürlich. 

An dieser Stelle plagt die Autorin sich mit Selbstzweifeln. „Ist das nicht auch schneller zu schaffen? Bin ich wirklich zu zwanghaft, zu perfektionistisch? Machen die Kolleginnen und Kollegen das in deutlich kürzerer Zeit?“

Bekanntermaßen ist dieser Bericht das „ungeliebte Kind“ so ziemlich aller Therapeuten und Therapeutinnen. Jedenfalls hat die Autorin noch nie von jemandem gehört, der oder die dies wirklich gern abarbeitet. Dies wohl auch deshalb, weil dieses Gutachterverfahren auch nur begrenzt sinnvoll erscheint. Es ist sicherlich hilfreich, sich diesen Gesamtüberblick zu verschaffen und einen roten Faden für das Vorgehen zu spinnen. Unpassend erscheint, dass da irgendwo am anderen Ende der Republik jemand dazu auserkoren wurde, darüber zu urteilen, ob alles schlüssig und erfolgversprechend ist. Ein ganzes Berufsleben lang wird einem da auf die Finger geschaut. Als ob man nicht nach einigen Jahren dann doch so einigermaßen wüsste, was man denn da tut – nach mehrjährigem Studium und anschließend dreijähriger Vollzeitausbildung mit sehr hohem Praxisanteil und viel Supervision. Das hilfreichste Feedback erhalten wir doch ohnehin von den Patienten und Patientinnen selbst, zumeist unmittelbar. Am Ende weiß der Gutachter bzw. die Gutachterin dann hauptsächlich, ob man in der Lage ist, gute oder angemessene Berichte zu schreiben. Das ist noch längst nicht gleichbedeutend mit guter oder angemessener therapeutischer Arbeit in der Praxis. Spätestens hier ist das Verfahren dann doch einigermaßen ad absurdum geführt – oder nicht?


Claudia Falk